Es sollte wohl ein kleiner Machtkampf sein, den FDP-Fraktionsvorsitzender Jürgen Eitel im Eifer des OB-Wahlkampfes (FDP-Slogan: „Kreuznach kann mehr“) anzettelte. Doch dann verabschiedete sich seine Fraktion — einmal mehr Seit’ an Seit’ mit der AfD — aus der Stadtratssitzung, weil mehrere ihrer Mitglieder nicht in der Lage waren, ihr fix und fertig eingerichtetes und eingeschaltetes Tablet in einer Videositzung zu handhaben.
Videokonferenzen haben in Coronazeiten den Sinn, durch Vermeidung von Präsenz Infektionsgefahren zu verringern. Darüber bestand Einigkeit, und so wurde im Hauptausschuss zuvor auch für die Stadtratssitzung am Donnerstag, 17. Februar 2022, dieses Format beschlossen. Anders als andere Stadtratsfraktionen pflegen FDP und AfD allerdings gleichwohl im Sitzungssaal zu tagen, in jeweils voller Fraktionspräsenz und bei bester Stimmung, wie es die Öffentlichkeit dank versehentlich nicht abgestellten Mikrofonen in früheren Sitzungen immer wieder erleben konnte.
Eines war diesmal anders: Es fehlte die persönliche Assistenz durch die Mitarbeiter der Stadtverwaltung. Diese hatten sich — wie sie zum Ende der Sitzung auf Nachfrage klarstellten — aus eigenem Ermessen und aus Verantwortungsbewusstsein dem Treiben von FDP und AfD entzogen. Denn der sogenannte Sitzungsdienst, verantwortlich etwa für Protokoll und technische Durchführung der Abstimmungen, managt auch die administrative Seite der OB-Wahl. Eine Corona-Infektion würde da Probleme bereiten.
Erstmals alleingelassen, klagt die FDP
„Zum ersten Mal lässt man uns hier ganz alleine, wir haben keinerlei Unterstützung“, klagte Jürgen Eitel. „Wir haben einige Stadtratsmitglieder, die einen PC nicht beherrschen, ihn auch nicht bedienen können.“ Dies sei ein untragbarer Zustand und die Oberbürgermeisterin solle dafür sorgen, „dass eine Ihrer Personen hier wieder erscheint“.
Zuletzt hätten sich alle Mitglieder von AfD- und FDP-Fraktion, nicht nur jene mit Unterstützungsbedarf, stundenlang während der Stadtratssitzungen zu „Fraktionssitzungen“ im Sitzungssaal aufgehalten, antwortete OB Kaster-Meurer. Sie sei nicht bereit, Eitels Forderung nachzukommen und ihren Sitzungsdienst diesem hohen Infektionspotenzial über Stunden auszusetzen, zumal gegenüber anderen Fraktionen hierin auch ein Ungleichgewicht liegen würde.
Jürgen Eitel forderte noch ein Statement von Stadtrechtsdirektorin Heiderose Häußermann zu der Frage ein, wie es rechtlich zu bewerten sei, dass einige Stadtratsmitglieder nicht in der Lage seien, ihr Gerät zu bedienen. Werner Lorenz, gesundheitlich in der Nutzung seiner Hände eingeschränkt, erklärte, er habe Bedenken, denn er könne das Gerät nicht bedienen und wolle sich nach einem Fehler bei der Abstimmung nicht beschimpfen lassen. Er werde ohne Hilfe nicht an der Sitzung teilnehmen.
Hans-Gerd Merkelbach, der jüngst in einer Stadtratssitzung zu Protokoll gegeben hatte, dass er keinen Computer bedienen kann und dies auch nicht können müsse, ergänzte, dass, wenn es erlaubt sei, in den Sitzungssaal zu kommen, dann auch gewährleistet sein müsse, dass die Technik dort funktioniere.
Zum Erbrechen, meint Die Linke
Jürgen Locher (Die Linke) konnte sich kaum halten: „Zwei Jahre Corona — herzlich willkommen in der Bad Kreuznacher Wirklichkeit“, ätzte er. Und: „Ich glaub, ich kotz’ gleich auf den Tisch, aber wirklich.“ Wenn man in den beiden Fraktionen nicht in der Lage sei, sich gegenseitig zu unterstützen, „dann frage ich euch, was sollen denn alle anderen machen? Sollen jetzt alle einen Paten aus der Verwaltung kriegen?“ Er schloss mit der Bemerkung: „Wollt ihr arbeiten oder wollt ihr Blödsinn machen? Ich habe kein Verständnis für dieses Vorgehen.“
OB Kaster-Meurer verwies darauf, dass der Sitzungsdienst das neue Verfahren angekündigt und bereits im Planungsausschuss umgesetzt habe. Da habe es keinerlei Beschwerden gegeben, was Werner Lorenz auch bestätigte. Er kündigte an: Wenn ihm ein Fehler unterlaufe, werde er nach Hause gehen.
Anna Roeren-Bergs (CDU) erinnerte daran, dass vor 24 Monaten, zu Beginn der Sitzungen im Videoformat, „jedes Stadtratsmitglied, jedes Ausschussmitglied die Unterstützung und die Einweisung durch Mitarbeiter der Stadtverwaltung“ mehrfach angeboten bekommen habe. Nun werde sie gerne Nachhilfe anbieten.
Aus seiner Sicht würden die Argumente von Locher und Roeren-Bergs überhaupt nicht ziehen, sagte Jürgen Eitel, denn „das muss heute hier funktionieren“, und er könne nicht verstehen, dass die OB ihre Mitarbeiter „abgezogen“ habe. Er wiederholte: „Einige der Herren, die hier sitzen, sind nicht in der Lage, ihren PC zu beherrschen. Und das geht nicht.“
Es folgte eine Sitzungsunterbrechung — bei erneut anfangs „offenen“ Mikrofonen der nun schimpfenden FDP-Vertreter. „Könnt Ihr bitte mal ruhig sein, hier im Saal“, wetterte Jürgen Eitel anschließend, und dann zur OB: „Es ist nicht erträglich … wir haben uns entschieden, die Sitzung sofort zu verlassen, wenn Sie nicht garantieren, dass sofort jemand kommt und uns hilft. Die FDP, die Faire Liste und die Freien Wähler werden das tun.“
„Gut“, sagte die OB. „Dann sind wir weg“, sagte Eitel.
Thomas Gierse
Kommentar
Aus Sicht des Kandidaten muss das der Super-GAU sein. Während sich im OB-Wahlkampf Emmanuel „Letz go“ Letz als Posterboy der Orts-FDP und in der Tradition der Freidemokraten um ein Profil als Neustarter und Macher bemüht, öffnet Fraktionsvorsitzender Jürgen Eitel die Tür zum Kohlenkeller und zeigt, wie es um die FDP tatsächlich bestellt ist. Anspruch und Realität liegen in der FDP offenbar so weit auseinander, dass Bezugspunkte ohne Sehhilfe nicht zu erkennen sind.
„Einige der Herren, die hier sitzen, sind nicht in der Lage, ihren PC zu beherrschen“, lautete Eitels Lagebericht aus der Fraktion. Zunehmendes Alter und schwindende Gesundheit spielen da mit und sollen hier weder verschwiegen noch ins Lächerliche gezogen werden. Lächerlich ist allerdings, daraus Profit durch Aufmerksamkeit schlagen zu wollen, gerne mit drohendem Unterton in der Stimme und der Forderung, dass der vermeintliche Missstand „sofort!“ abzustellen sei.
Jürgen Eitel neigt zur Überschätzung seiner eigenen Bedeutung und jener der FDP. Den Umstand, dass er im Stadtrat das Sammelbecken der Ältesten-Fraktion leitet, wird er als Erfolg werten. Dass einige Mitglieder dieser Fraktion vor allem zweifelhafte persönliche Interessen verfolgen — in derselben Sitzung am Beispiel des Bürgerhauses Winzenheim eindrücklich dargelegt — rührt mutmaßlich ebensowenig an seinem Selbstverständnis wie die Fragen, ob der Gleichschritt mit der AfD Ausdruck seines Demokratieverständnisses ist oder wie denn seine Modernitätsverweigerer eine zukunftsgerichtete Politik machen wollen.
Sofern sie überhaupt mitmachen wollen. Jürgen Locher (Linke) warf diese Frage auf, weil gegenseitige Unterstützung bei den Fraktionsmitgliedern nicht vorgesehen zu sein scheint, solange sie nach der Verwaltung rufen können. Es sieht ganz so aus, als hätten die Liberalen im Stadtrat den Wesenskern liberaler Politik aus den Augen verloren.
OB-Kandidat Emmanuel Letz hat am Donnerstag die letzte Chance vertan, vor dem Wahltermin am 13. März wenigstens einmal eine dieser erstaunlichen Stadtratssitzungen mitzuerleben, die er doch als OB gerne leiten würde. Mit Blick auf die FDP-Fraktion hätte er seinen Slogan uneingeschränkt bestätigt gesehen: „Bad Kreuznach kann mehr!“
Thomas Gierse
Das Archivfoto (Juli 2021) zeigt Fraktionsmitglied Dr. Herbert Drumm bei der analogen Bewältigung der Stadtratsarbeit. Dr. Drumm leitet in der Landtagsfraktion der Freien Wähler den Arbeitskreis für Digitalisierung und digitale Infrastruktur.